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ADHS bei Erwachsenen: Symptome verstehen und den Alltag meistern

  • Autorenbild: Oliver Wyss
    Oliver Wyss
  • 25. März
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 27. März


ADHS bei Erwachsenen: Alltagssituationen mit Reizflut, Gedankenkarussell und emotionaler Überforderung dezent dargestellt.

Ein Leben im Dauerchaos: Wer als Erwachsener von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen ist, kennt das Gefühl ständiger innerer Unruhe, Gedankensprünge und impulsiver Entscheidungen. Jeden Tag wartet ein kleines Chaos: Termine werden verpasst, Rechnungen liegen unbeachtet auf dem Schreibtisch, während im Kopf zig Ideen gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlen. In Gesprächen schweifen die Gedanken ab, wichtige Informationen gehen unter. Für Aussenstehende wirkt das mitunter wie Zerstreutheit oder Nachlässigkeit – doch Betroffene selbst leiden oft unter den daraus resultierenden Problemen. Sie wollen sich konzentrieren und organisiert sein, kämpfen aber immer wieder mit ihren eigenen Gedanken und Emotionen.


Viele Erwachsene mit ADHS beschreiben, dass es sich anfühlt, als liefe im Kopf ein Motor ständig auf Hochtouren. Äusserlich sind sie vielleicht ruhiger als hyperaktive Kinder, doch innerlich herrscht ein permanentes Getriebensein. Die Folge sind andauernde Konzentrationsprobleme und das Gefühl, nie zur Ruhe zu kommen. Aufgaben werden begonnen und nicht zu Ende gebracht, überall häufen sich angefangene Projekte. Impulsive Handlungen – sei es spontanes Online-Shopping oder ein unbedachtes Wort im Streit – führen im Nachhinein zu Frust und Schuldgefühlen. Dieses Erleben ist für direkt Betroffene anstrengend; zugleich stehen auch Partner:innen und Angehörige oft ratlos vor diesem scheinbaren „Chaos-Menschen“. Die gute Nachricht: ADHS bei Erwachsenen ist zwar herausfordernd, aber mit dem richtigen Verständnis und geeigneten Strategien lässt sich der Alltag strukturiert und erfüllend gestalten.


Ursachen und neurobiologische Grundlagen von ADHS bei Erwachsenen

ADHS beginnt immer in der Kindheit – das heisst, die Wurzeln liegen in der frühesten Entwicklung des Gehirns. Lange Zeit galt ADHS als „Kinderkrankheit“, doch wir wissen heute, dass etwa 5 % der Erwachsenen weiterhin unter deutlichen ADHS-Symptomen leiden. Die Ursachen sind vielfältig. Zum einen spielen genetische Faktoren eine grosse Rolle: Die Wahrscheinlichkeit, ADHS an die eigenen Kinder weiterzugeben, liegt Schätzungen zufolge bei rund 80 %. Zum anderen beeinflusst die Gehirnchemie das Störungsbild massgeblich.

Im Gehirn von Menschen mit ADHS besteht ein Mangel an Dopamin und Noradrenalin – genau den Neurotransmittern, die für Motivation, Wachheit und zielgerichtete Konzentration sorgen. Einfach gesagt: Die chemischen Botenstoffe stehen in den entscheidenden Hirnregionen nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Das hat zwei zentrale Effekte.


Erstens: Reize werden anders gefiltert und verarbeitet. Anstatt unwichtige Eindrücke auszublenden, prasseln bei ADHS-Betroffenen viele Informationen gleichzeitig auf sie ein. Sie nehmen eigene Gedanken, Geräusche (das Ticken einer Uhr, Strassenlärm) oder Gespräche im Nachbarbüro parallel wahr und können sich nur schwer auf eine einzige Sache fokussieren. Diese Reizüberflutung führt schnell zu Überforderung und Ablenkung.


Zweitens: Die Steuerung des eigenen Verhaltens fällt schwerer, weil die „Bremse“ im Gehirn schwächer zieht. Das zeigt sich in Impulsivität – spontane Handlungen ohne viel Nachdenken – und in einer geringeren Fähigkeit, Aufmerksamkeit bewusst aufrechtzuhalten. Interessanterweise sind zugleich manche Hirnareale überaktiv, z. B. die Regionen fürs Tagträumen. Das Gehirn ist also gleichzeitig zu wenig und zu viel aktiv – ein inneres Ungleichgewicht, das erklärt, warum Betroffene sich schwer auf eine Aufgabe konzentrieren können, während ihr Kopfkino ungewollt weiterläuft.


Symptome von ADHS im Erwachsenenalter

ADHS äussert sich bei Erwachsenen oft anders als bei Kindern. Klassische Hyperaktivität (das „nicht still sitzen können“) tritt seltener offen zutage. Stattdessen verspüren Erwachsene mit ADHS häufig eine innere Unruhe oder Rastlosigkeit. Viele sind weniger auffällig im Verhalten, kämpfen aber innerlich mit Zerstreutheit. Typische Symptome, die bei erwachsenen ADHS-Betroffenen gehäuft vorkommen, sind zum Beispiel: Schwierigkeiten, einem Gespräch aufmerksam zu folgen, Vergesslichkeit, plötzliche Stimmungsschwankungen und hohe Reizbarkeit. Auch Probleme bei der emotionalen Regulation, bei Planung und Selbstorganisation, eine ständige Ungeduld sowie das Gefühl von sensorischer Überforderung (Reizüberflutung) werden oft berichtet. Während Kinder mit ADHS eher durch impulsives Herumlaufen oder lautes Verhalten auffallen, „mündet“ die Hyperaktivität im Erwachsenenalter häufig in einem chronischen Nervositätsgefühl.


Bemerkenswert ist, dass viele Erwachsene gelernt haben, gewisse Symptome zu kompensieren. Im Laufe der Jahre entwickeln Betroffene individuelle Strategien, um mit ihrer Andersartigkeit umzugehen. Dennoch bleibt ADHS eine Herausforderung: Wenn die Störung nie diagnostiziert oder behandelt wurde, haben die Betroffenen oft einen langen Leidensweg hinter sich. Sie fragen sich vielleicht, warum sie beruflich nie das erreichen, was ihrem Potenzial entspricht, oder warum Freundschaften und Beziehungen immer wieder scheitern – ohne zu wissen, dass im Hintergrund ADHS der Grund ist. Entsprechend gross ist die Erleichterung, wenn die Diagnose im Erwachsenenalter endlich gestellt wird und man versteht, „warum man ist, wie man ist“.


Alltagsprobleme: Beruf, Beziehungen und Selbstwert

Die ADHS-Symptome ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Was bedeutet das konkret im Alltag eines Erwachsenen?


Im Berufsleben: Zwischen Kreativität und Chaos

Im Job zeigt sich ADHS oft in Form von Organisationsschwierigkeiten und Leistungsschwankungen. Betroffene haben brillante Ideen und viel Kreativität, tun sich aber schwer, Routineaufgaben oder langweilige Pflichten zu erledigen. Deadlines werden bis zur letzten Minute hinausgezögert, der Schreibtisch versinkt im Papierstapel. Teammeetings können zur Herausforderung werden, weil man Mühe hat, den Faden im Gespräch nicht zu verlieren. Kollegen und Vorgesetzte stossen sich mitunter an impulsiven Äusserungen oder daran, dass Aufgaben zwar enthusiastisch begonnen, aber nicht zu Ende geführt werden.


Wichtig zu wissen: Niemand handelt absichtlich unkonzentriert oder chaotisch – im Gegenteil, viele ADHS-Betroffene sind frustriert darüber, dass sie ihr Können nicht abrufen können „wie die anderen“. Sie möchten zuverlässig sein, doch ihr Gehirn macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Das führt leider oft dazu, dass ihre Leistungen unter ihrem eigentlichen Potenzial bleiben.


Beziehungen und Familie: Missverständnisse vorprogrammiert

Auch im zwischenmenschlichen Bereich kann ADHS erhebliche Schwierigkeiten verursachen. Partnerschaften mit einem ADHS-Betroffenen verlaufen häufig turbulent: Vergessene Erledigungen, zu spät kommende Entschuldigungen oder impulsive Wutausbrüche belasten die Beziehung. Der Partner ohne ADHS fühlt sich vielleicht ignoriert oder zurückgesetzt, wenn sein Gegenüber in Gedanken abschweift oder ständig am Smartphone daddelt, obwohl ein wichtiges Gespräch ansteht. Solches Verhalten wirkt auf andere schnell rücksichtslos oder störend, obwohl es keine böse Absicht ist. Die Person mit ADHS liebt ihren Partner, vergisst aber im Eifer des Moments zum Beispiel den gemeinsamen Abendessen-Termin – und versteht dann selbst kaum, warum sie immer wieder solche Fehler macht. Das führt zu Selbstvorwürfen. In Freundschaften ähnlich: Unaufmerksamkeit oder das plötzliche „Abtauchen“ (weil man sich mal wieder verzettelt hat) werden als Desinteresse missverstanden. Die Folge sind häufige Missstimmungen.


Viele Betroffene belastet es sehr, dass sie ihre Beziehungen nicht so gestalten können, wie sie es sich wünschen. Sie fühlen sich als Versager, obwohl sie sich grosse Mühe geben. Hier ist viel Kommunikation und gegenseitiges Verständnis nötig, um das Anecken nicht persönlich zu nehmen.


Selbstwertgefühl und psychische Gesundheit

Ständige Kritik im Beruf und Konflikte im Privatleben gehen nicht spurlos an der Psyche vorbei. Erwachsene mit unbehandelter ADHS haben ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens Begleiterkrankungen zu entwickeln – zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder Suchtprobleme. Oft entsteht ein Teufelskreis: Aus Scham über vermeintliche persönliche „Unzulänglichkeiten“ ziehen sich Betroffene zurück oder versuchen, den inneren Stress mit Alkohol, Essen oder anderen kurzfristigen Belohnungen zu betäuben. Häufig besteht tief im Unterbewusstsein ein negatives Selbstbild („Ich bin faul, ich kriege nie etwas hin“), das aus Jahren voller Misserfolge resultiert. Dieses nagt am Selbstwertgefühl. Gleichzeitig treten bei ADHS auch unabhängig davon starke Emotionen auf – viele Betroffene sind sehr sensibel, schnell verletzt oder gereizt. Die emotionale Regulation fällt schwer: Kleine Auslöser können grosse Gefühlsausbrüche bewirken, was im sozialen Umfeld wiederum auf Unverständnis stösst. So kann ADHS seelisch äusserst belastend sein, vor allem wenn man lange Zeit gar nicht wusste, warum man „anders tickt“.


Alltag organisieren: Wenn das Zuhause zum Schlachtfeld wird

Haushalt und Zeitmanagement sind weitere Baustellen. Dinge des täglichen Lebens – Rechnungen pünktlich zahlen, den Kleiderschrank ordnen, einen Wochenplan fürs Einkaufen und Kochen einhalten – können für ADHS-Betroffene überwältigend wirken. Selbstorganisation ist genau das, was ADHS erschwert. So häuft sich Post ungeöffnet an, wichtige Dokumente verschwinden im Papierchaos, und Verabredungen werden versäumt, weil der Kalender nicht geführt wird. Viele beschreiben, sie leben im ständigen Jetzt, immer reaktiv auf das, was gerade Aufmerksamkeit erheischt, anstatt planen zu können. Aussenstehende (Mitbewohner, Familienmitglieder) empfinden das als Chaos und Unzuverlässigkeit. Dabei strengen sich Betroffene oft enorm an – sie erstellen immer wieder neue Listen und Pläne, die dann doch nicht umgesetzt werden. Diese Diskrepanz zwischen Wollen und Können ist frustrierend. Aber: Mit etwas Unterstützung und Technik lassen sich auch diese Hürden bewältigen.


Strategien und Tipps für den Alltag mit ADHS

Auch wenn ADHS nicht „heilbar“ ist, gibt es zahlreiche bewährte Strategien, um den Alltag besser in den Griff zu bekommen. Jede*r Betroffene ist anders, doch die folgenden Tipps haben vielen Erwachsenen mit ADHS geholfen:


  • Strukturen schaffen: Feste Routinen und klare Zeitpläne geben Halt. Zum Beispiel immer zur gleichen Zeit aufstehen, Mahlzeiten einnehmen und schlafen gehen. Ein strukturierter Tagesablauf erleichtert es, den roten Faden nicht zu verlieren. Pläne sollten schriftlich festgehalten werden – etwa durch Kalender-Apps oder klassische Wochenpläne an der Wand. Sichtbare Erinnerungen helfen dem ADHS-Gehirn, bei der Sache zu bleiben.

  • Aufgaben chunken und priorisieren: Grosse Vorhaben lassen sich leichter bewältigen, wenn man sie in kleine Teilaufgaben zerlegt. Schritt-für-Schritt-Anleitungen (notiert auf Karteikarten oder einer App) können Wunder wirken. Zudem lohnt es sich, täglich nur wenige Prioritäten zu setzen. Was sind die drei wichtigsten Aufgaben des Tages? Diese zuerst angehen, bevor man sich verzettelt.

  • Reizüberflutung reduzieren: Da Konzentration bei ADHS durch äussere Reize schnell gestört wird, sollte die Umgebung entsprechend gestaltet werden. Ein aufgeräumter Schreibtisch, lärmreduzierende Kopfhörer und das Ausschalten von Benachrichtigungen (E-Mail, Smartphone) während wichtiger Arbeiten minimieren Ablenkungen. Bewusste Pausen zwischendurch – etwa kurze Spaziergänge an der frischen Luft – helfen, Reize zu verarbeiten und danach wieder fokussierter weiterzumachen.

  • Hilfsmittel zur Selbstorganisation nutzen: Kalender, To-Do-Listen, Post-its und Wecker sind nicht nur „Krücken“, sondern legitime Helfer. Viele Erwachsene mit ADHS schwören auf visuelle Timer oder Uhren mit Alarm, um Zeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Apps speziell für ADHS (zur Aufgabenverwaltung oder als digitales Tagebuch) können Struktur ins Leben bringen. Wichtig ist, ein System zu finden, das zur Person passt, und dieses konsequent zu verwenden – auch wenn es anfangs Überwindung kostet.

  • Offen kommunizieren: ADHS muss kein Geheimnis sein. Im Gegenteil – wenn Partner, Familie und enge Freunde über die Diagnose Bescheid wissen, können Missverständnisse reduziert werden. Offene Gespräche darüber, was einem hilft (z. B. „Bitte erinnere mich freundlich an unsere Verabredung, statt böse zu werden, wenn ich trödle“) verbessern das Miteinander. Im Beruf kann es sinnvoll sein, nach Rücksprache mit dem Arzt auch Vorgesetzte zu informieren, um gemeinsam Lösungen zu finden (z. B. einen ruhigeren Arbeitsplatz oder flexible Arbeitszeiten).

  • Professionelle Unterstützung suchen: Neben der medikamentösen Therapie (Stimulanzien wie Methylphenidat können die Dopaminversorgung im Gehirn verbessern und so die Konzentrationsfähigkeit steigern) gibt es psychologische Hilfen. Besonders ADHS-Coaching und Verhaltenstherapie haben sich bewährt. In einem Coaching lernt man zum Beispiel individuelle Strategien für Organisation, Zeitmanagement und den Umgang mit Stress. In der Psychotherapie kann man an Selbstwertthemen und Emotionsregulation arbeiten. Wichtig ist, sich nicht zu scheuen, Hilfe anzunehmen – ADHS ist kein persönliches Versagen, und man muss den schwierigen Weg nicht alleine gehen.


An dieser Stelle sei betont: Trotz aller Probleme besitzt ADHS auch Stärken. Viele Betroffene sind ausserordentlich einfallsreich, begeisterungsfähig, hilfsbereit und mitfühlend. Diese positiven Eigenschaften verdienen Anerkennung und sollten bewusst genutzt werden. Wer seine besonderen Fähigkeiten kennt, kann sie im Alltag gezielt einbringen – und das steigert wiederum das Selbstwertgefühl.


Hypnose bei ADHS: Sanfte Hilfe über das Unterbewusstsein

Neben klassischen Therapien gewinnt eine ergänzende Methode an Interesse: Hypnose. Therapeutische Hypnose oder Hypnotherapie arbeitet mit dem Unterbewusstsein, also den tief verankerten Automatismen und Glaubenssätzen im Gehirn. Da bei ADHS viele Abläufe unbewusst ablaufen (z. B. automatische Stressreaktionen, negative Selbstgespräche), kann es hilfreich sein, genau dort anzusetzen. Hypnose versetzt Betroffene in einen entspannten, konzentrierten Trancezustand, in dem man offen für positive Suggestionen ist.


Erste Erfahrungen und kleinere Studien deuten darauf hin, dass Hypnose ADHS-Betroffenen helfen kann, gesündere Gewohnheiten zu etablieren und die Fokussierung zu verbessern. Zum Beispiel könnten unter Hypnose innere Bilder genutzt werden, um sich Ruhe und Klarheit vorzustellen, oder man lernt, Ablenkungen auszublenden. Wichtig ist: Hypnose bei ADHS versteht sich als sanfte Unterstützung, nicht als Ersatz für medizinische Behandlung. Sie kann jedoch ergänzend eingesetzt werden, um innere Unruhe zu lindern, das Selbstvertrauen zu stärken und das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes neu zu „programmieren“.


Für Interessierte gilt: Wendet euch an ausgebildete Hypnosetherapeut:innen, die Erfahrung mit ADHS haben. In Kombination mit den oben genannten Strategien – Struktur, Kommunikation, Coaching – kann Hypnose ein weiterer Baustein sein, um das eigene Potential trotz ADHS voll auszuschöpfen. Es lohnt sich, verschiedene Ansätze auszuprobieren, denn jeder Mensch mit ADHS ist einzigartig. Mit Empathie, fachlichem Wissen und ein wenig Experimentierfreude lässt sich der Alltag jedoch nachhaltig verbessern – hin zu mehr Selbstbestimmung, innerer Ruhe und Lebensfreude trotz ADHS.



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